Frank-Steffen Walliser im Interview

Rendezvous im Regen

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Mit Frank-Steffen Walliser eine Rennstrecke anzusteuern, gleicht einer Auswilderung. Denn ehe er 2019 die Leitung der Baureihen 911 und 718 übernahm, zeichnete er für den GT-Rennsport bei Porsche verantwortlich.

Der Stuttgarter war Praktikant, Diplomand und Doktorand bei Porsche – er atmet die Marke und erkennt Rennstrecken an ihrer Asphaltkörnung. Heute ist Hockenheim das Ziel. Vor dem Porsche Experience Center wartet „Moby Dick“, jener 1978 gebaute Turbo-Extremist unter den 911-Derivaten.

Herr Walliser, vermissen Sie den Kommandostand an der Rennstrecke?

Klar, die Entscheidung für den Motorsport war eine Passion, die man nicht einfach abstreift. Ich fiebere weiterhin mit. Rennsport ist sehr unmittelbar und liefert klare Ergebnisse ohne Wenn und Aber. Allerdings habe ich auch meine neue Rolle sehr bewusst angenommen. Sie ist mindestens ebenso herausfordernd. Und die Erfahrung aus dem Sport, das fokussierte Hinarbeiten auf sehr konkrete Ziele, hilft unbedingt bei der Ergebnisüberwachung in der Entwicklung.

Was verbindet Sie gerade mit dem Porsche 935/78, besser bekannt als „Moby Dick“?

Er ist die brachialste Version des 935 und im Kern immer noch ein Elfer – für mich ein auf ewig faszinierender Rennwagen. Als wir den 2018 vorgestellten neuen 935 als Clubsportauto entwickelten, haben wir erst einmal Tisch und Bänke um „Moby Dick“ aufgebaut und ihn auf uns wirken lassen. Das war Benchmarking wörtlich genommen.

Auf der Fahrt nähern wir uns „Moby Dick“ auch inhaltlich. Dieser Porsche 935 bildete 1978 eine der freizügigsten Interpretationen des unerschöpflichen Themas 911 und rollte bei nur vier Rennen an den Start. Sein 3,2-Liter-Sechszylinder war der erste Porsche-Motor mit einem wassergekühlten Vierventil-Zylinderkopf, während die Zylinder selbst luftgekühlt blieben. Zwei kleinere Turbolader sorgten für ein spontaneres Ansprechverhalten als bei Vorgängern mit einem einzelnen großen Lader. Für konventionelle Rennen leistete der Boxer mit Ladeluftkühlung bis zu 621 kW (845 PS), für den Marathon in Le Mans mussten 750 standfeste Pferde reichen. Kein anderes 911-Derivat hat solche Motorleistungen je wieder erreicht. Für den Wettbewerb in der damaligen Gruppe 5 wurde eine 911-Serienkarosserie um alles erleichtert, was das Reglement zuließ. Die Ingenieure addierten einen Aluminium-Gitterrohrrahmen, über den sie eine aerodynamisch optimierte Karosserie spannten. Der 1.025 Kilogramm leichte GT-Rennwagen beschleunigte bei seinem einzigen Le-Mans-Einsatz 1978 auf 366 km/h.

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Turbo-Erlebnis?

Sehr konkret sogar: Im Jahr 2000 durfte ich übers Wochenende einen 911 Turbo ausführen, Generation 996. Meine Frau und ich fuhren nach Hamburg. Auf dem Rückweg nach Stuttgart war der Terminplan etwas eng gefasst, aber wir hatten frühmorgens freie Bahn. Fünfeinhalb Stunden Fahrzeit für fast 700 Kilometer sind eine prägende Erinnerung und für mich eindeutig mit der geballten Kraft assoziiert, die hinter dem Wort Turbo steht.

Wo verorten Sie das Wort Turbo bei sich – Kopfsache, Herzensangelegenheit oder Bauchgefühl?

Als Ingenieur sehe ich primär die thermodynamische Maschine mit ihrer Aufgabe, Energie aus dem Abgas zu nutzen. Das ist Kopfsache. Ergebnis und Erlebnis sind allerdings emotional, berühren eindeutig Herz und Bauch. Im 911 Turbo verbinden sich erfahrbare Urkräfte, Dominanz und technische Faszination.

Was hat Porsche von Fahrzeugen wie „Moby Dick“ gelernt?

Für den Motorsport haben wir immer wieder bahnbrechende Technologien entwickelt, die wir anschließend erfolgreich für die Serie zähmen konnten. Von allen Innovationen zeigt dies der Turbolader am eindrucksvollsten. Bei seiner Implementierung noch exotische Renntechnik, etablierte er sich als Standard in breiter Serie. Von der Strecke auf die Straße – das ist bei Porsche echte Technologieentwicklung.
Leistung, Verbrauchsreduzierung, Ansprechverhalten: Der Turbolader hat erfüllt, was sich Kunden wünschen. Und die wichtigste Erkenntnis von damals gilt immer noch: Über 800 PS in einem Elfer sind kein Problem. Seine Heckmotorbauweise ist das einzige Konzept der Welt, das selbst mit so viel Schub optimale Fahrstabilität bietet. Der neue Turbo mit Allradantrieb treibt die Qualität des 911 als Traktionswunder auf die Spitze.

Turbo haben und Turbo heißen – das sind zwei unterschiedliche Dinge bei Porsche. Erklären Sie uns die Nomenklatur?

Tatsächlich verfügen heute alle neuen Elfer mit Ausnahme der GT-Modelle über Turbolader – und fast alle anderen Porsche auch. Aber nicht alle tragen diese inzwischen beinahe selbstverständliche Technologie im Namen. „Turbo“ steht bei Porsche für die Spitze, ist das Synonym für das Topmodell. So wie im deutschen Sprachgebrauch bei „Tempo“ jeder an ein Taschentuch denkt und bei „Tesa“ an einen Klebstreifen. Deshalb gebührt dieses Suffix auch dem Topmodell des abgasfreien Taycan.

Der neue 911 Turbo S entwickelt 650 PS aus dem neuen 3,8-Liter-Boxermotor mit zwei VTG-Ladern – 70 PS mehr als der Vorgänger. War dieser größte Leistungszuwachs der jüngeren Porsche-Geschichte nötig?

Überlegene Leistung ist ein zentraler, traditioneller und emotionaler Anspruch, für den der 911 Turbo unbedingt steht. Der 991 hat hohe Maßstäbe gesetzt. Von dieser Absprunghöhe aus kann man nur mit einer deutlichen Steigerung beeindrucken. Der Leistungszuwachs muss unbedingt spürbar sein. Und das ist uns gelungen.

Was stand ganz oben bei den Entwicklungszielen?

Auf jeden Fall die Alltagstauglichkeit. Diese Qualität hebt den 911 Turbo von allen anderen High-Performance-Sportwagen ab. Für ihn gibt es auch Winterreifen, er ist ein gut beherrschbares Ganzjahresauto für lange Strecken. Gleichzeitig – das ist das zweite Entwicklungsziel – muss er manchmal sprachlos machen. Durch viele neue Features, beispielsweise das Sportfahrwerk und die Sportabgasanlage, haben wir dem Turbo noch mehr Performance verliehen.

Charakterfrage: Wohin schlägt das Pendel beim neuen 911 Turbo letztlich aus – eher Richtung Gran Turismo oder doch zum kompromisslosen Sportgerät?

Für mich immer ein bisschen mehr in Richtung Fahrmaschine. Aber diese Frage begleitet einen über die gesamte Entwicklung; der Prozess gleicht einem permanenten Spagat. Über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren feilen wir in Diskussionen, Erprobungen und Feinabstimmungen daran. Welches Maß an Sportlichkeit wollen wir ihm geben und wie viel Alltagstauglichkeit erhalten? Welcher Sound unterstreicht den Charakter und welchen Geräuschpegel empfinden wir über größere Distanzen als störend?
Die am Ende klare Positionierung des Produkts zeichnet uns aus. Beim GT3 beispielsweise gilt die Devise „maximale Sportlichkeit mit ein bisschen Alltagstauglichkeit“. Beim Turbo ist hohe Alltagstauglichkeit Pflicht, seine beeindruckende sportliche Schärfe bildet die Kür.

Worin lag die größte Herausforderung?

In erster Linie genau in dieser Spreizung. Hinzu kam die Herausforderung, im relativ engen Hinterwagen 650 PS unterzubringen und unter allen Randbedingungen stabil darzustellen. Die Thermodynamik ist komplex. Zur Leistungssteigerung haben wir deutlich größere Turbolader verwendet und hatten entsprechende Ladeluftkühler zu positionieren.

Auf der Autobahn bleibt der Blick nach vorn getrübt. Dauerregen. Ein Tag in derart nassgrauer Diesigkeit war nicht vorgesehen. Und offenbar geht nicht jeder Verkehrsteilnehmer mit der Witterung so souverän um wie Frank-Steffen Walliser. Die Stauhinweise verdichten sich. Stumm. Denn heute hat der Chef das Wort.

Gebührt dem neuen 911 Turbo eine Pionierrolle?

Pionierleistungen erweisen sich immer erst nach einiger Zeit als solche. Aber ich bin sicher, dass unsere Weiterentwicklungen in den Bereichen Turbotechnologie, Allradantrieb, Integration des PDK-Getriebes und Instrumente zur noch besseren Beherrschbarkeit dem neuen Turbo Chancen eröffnen, in den Olymp der Pioniere aufzusteigen. Das Topmodell 911 Turbo war historisch immer ein Eisbrecher für die Serienreife neuer Technologien und bot einen Blick in die Zukunft der nächsten Elfer-Generation. Ich denke unter anderem an die Turboaufladung mit Bypassventil, Ladeluftkühlung, Keramikbremse, variable Turbinengeometrie (VTG), adaptierbare Aerodynamik und Allradsteuerung.

Wie gelang Porsche die Beherrschung des Turbolochs?

Am Anfang war dafür allein der Fahrer zuständig. Er musste einschätzen, wann er in der Kurve Gas zu geben hatte, um den verzögert einsetzenden Schub am Kurvenausgang zur Beschleunigung zu erhalten. Die technischen Meilensteine waren Wastegate-Regelung, Ladeluftkühlung, Lader-Dimensionierung und VTG.
Die variable Turbinengeometrie zur Erzeugung besserer Anströmverhältnisse im Turbolader ist beim Benziner nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal von Porsche und eines der Geheimnisse für die gute Fahrbarkeit. Weitere wesentliche Fortschritte resultieren aus der Motorelektronik und dem PDK-Getriebe. Die sorgfältig zwischen Sportlichkeit und Komfort abgewogenen Fahrprogramme des automatischen Doppelkupplungsgetriebes ohne Zugkraftunterbrechung haben einen großen Anteil an Agilität und Ansprechverhalten.

Was hat die Turbolader-Technik von „Moby Dick“ noch mit der Aufladung des neuen 911 Turbo gemeinsam?

Es handelt sich in beiden Fällen per se um Turbolader, aber das war es dann auch schon. Das Ansprechverhalten eines heutigen Turbo ist mit den frühen Ausführungen nicht zu vergleichen. „Moby Dick“ war ein schwer zu fahrendes Monster mit rudimentär über ein Wastegate geregelten Ladern. Die Leistung des neuen 911 Turbo hingegen ist sehr leicht erschließbar.

Endlich am Hockenheimring, verlässt der Baureihenleiter die Behaglichkeit des Cockpits ohne Zaudern und eilt seiner tropfnassen alten Liebe entgegen. „Moby Dick“ und er können Schmuddelwetter ab. Zwei Racer mit Nehmerqualitäten.

Wie klingt der neue 911 Turbo?

Absolut emotional! Beim ersten Anlassen ist klar, dass man in einem 911 sitzt – der typische Sound des Sechszylinders, besonders prägnant mit der optionalen Sportabgasanlage. Und wir haben ganz bewusst entschieden, dass die Turbolader ein bisschen fauchen und ab und zu zwitschern dürfen.

Dienen die jüngsten Turbolader im 992 eher der Leistungssteigerung oder der Verbrauchsoptimierung?

Beidem zugleich. Der neue 911 Turbo lässt sich mit hervorragenden Reichweiten bewegen. Das unterstreicht seine Alltagstauglichkeit. Doch bei Abruf des maximalen Leistungspotenzials schaufeln die beiden Lader spontan große Luftmengen in die Brennräume.

Ist die neue Reifentemperaturanzeige ein Gimmick aus Ihrer früheren Berufswelt?

Genetisch wurzelt sie auf der Rennstrecke, aber sie ist weit mehr als ein Gimmick. Zusammen mit anderen Systemen dient sie der Fahrbarkeit, dem Fahrspaß und vor allem der Sicherheit. Abhängig vom gewählten Reifen sowie von Druck und Temperatur ist die entscheidende Aufstandsfläche in der Regel kaum größer als eine Handfläche. Bislang waren wir nicht zufrieden mit der Präzision von Reifentemperaturanzeigen, weil sie bestimmte Ereignisse – beispielsweise durchdrehende Räder – nicht zu berücksichtigen vermochten und entscheidende Informationen nicht schnell genug abbildeten. Für den neuen 911 Turbo haben wir einen ganz anderen Ansatz gewagt. Neben der reinen Messung modellieren wir die Reifentemperatur mit einer Software und können sie jetzt extrem präzise anzeigen. Das ist eine echte Hilfe. Wir reden von einem High-Performance-Sportwagen mit entsprechender Bereifung. Aber wenn die Pneus zu kalt sind, können sie nicht leisten, was der Fahrer von ihnen erwartet. Das ist eine relevante Information. Deshalb legen wir großen Wert auf eine nutzbare Vermittlung von Reifendruck, Nässesensorik und Reifentemperatur.

Hand aufs Herz: Wird es eines Tages einen noch stärkeren Porsche 911 Turbo mit Verbrennungsmotor geben?

Wenn ein neues Modell fertig ist, sagt man mit dem frischen Schweiß auf der Stirn: „Mehr geht nicht.“ Aber als Ingenieure sind wir ständig auf der Suche und entdecken doch wieder Steigerungspotenzial. So haben wir über Jahrzehnte die Grenze des Machbaren immer wieder neu definiert. Ich sehe keinen Grund, weshalb das aufhören sollte.


Interview aus dem Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Ausgabe 394.
Autorin: Heike Hientzsch
Fotograf: Tim Adler
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